Samstag, 7. Juni 2014

Wie schnell ist das Zeug in unseren Lungen? (Whiteboard-Skizze III)

Wir können es nicht direkt sehen, schmecken, riechen, hören oder anfassen - dennoch wissen wir, dass es uns permanent umgibt, uns einhüllt, wir nicht viel anderes vollbringen können als Tag für Tag am Grund seines "Ozeans" einen Fuß vor den anderen zu setzen, mit jedem Schritt erneut versuchend, der natürlichen, zum Erdkern gerichteten Kraft etwas entgegenzusetzen, um nicht hinzufallen, während sein unvorstellbares Gewicht von oben auf unsere Schultern drückt und es - spürbar durch ein leichtes Streichen übers Gesicht - unsere Vorwärtsbewegung erschwert.

So unantastbare, möglicherweise sogar betrüblich wirkende Effekte dieses Etwas auf uns auch zu haben scheint, so essentiell ist es für unsere Existenz und die jeglicher anderen Lebensformen auf unserem Planeten.
Die Rede ist von diesem vertrauten Gasgemisch, das wir mit dem Überbegriff "Luft" versehen haben.

Luft ist nicht allerorts gleich. Es gibt starke lokale Schwankungen der Konzentrationen von z. B. Wasser oder Aerosolen. Ziemlich homogen verteilt ist allerdings das zurundeliegende Gasgemisch, das unsere (trockene) Luft charakterisiert: Es besteht großteils aus Stickstoff (N2, 78%) und Sauerstoff (O2, 21%). Das restliche Prozent bilden Argon, CO2 und andere Stoffe.

Luft ist also ein Gemisch aus verschiedenen Gasen. Gut. - Was kann man sich dann unter einem Gas vorstellen?

So eine dumme Frage, könnte man sich denken, Ein Gas ist halt ein Gas - was soll daran schon besonders sein?! - Doch oft sind es bereits diese kleine Fragen, die faszinierende Einblicke in die Natur gewähren. Ihr werdet sehen, worauf ich hinaus will. ;-)

Einfaches Modell eines Gases:
Kleine Kügelchen, die unaufhaltsam aneinanderstoßen.

Ein Gas besteht aus kleinsten Teilchen - Molekülen oder Atomen -, welche man individuell (zumindest im Prinzip) zufriedenstellend gut mit physikalischen Modellen beschrieben kann. Leider reicht es aber für eine gute Beschreibung eines Gases nicht aus, z. B. das Verhalten eines einzelnen Stickstoffmoleküls zu kennen und es dann irgendwie auf die Gesamtheit des Gases "hochzurechnen". Ein Gas ist ein viel zu komplexes System, als dass man es auf diese Art erfolgreich beschreiben könnte - es sind einfach zu viele Teilchen involviert, die miteinander in Wechselwirkung stehen. In einem Würfelzucker-Volumen Stickstoffgas befinden sich bei Normalbedingungen etwa 27 Trillionen (2,69·1019 pro cm³) N2-Moleküle. Will man ein Gas beschreiben, muss man einen anderen Weg finden.
Den hat man auch gefunden. Anstatt jedes Molekül exakt zu beschreiben und dann mit Hilfe dieses Ergebnisses auf die Gesamtheit der Moleküle zu schließen, betrachtet man gleich die Gesamtheit der Moleküle und behandelt sie statistisch.
Ein sehr erfolgreiches und gleichzeitig simples Modell ist aus diesem Vorgehen unter anderem entstanden - nämlich das Modell des idealen Gases, bei welchem man sich die Moleküle - einfach gesagt - als furchtbar kleine Kügelchen vorstellt, die sich so lange frei und ohne Krafteinwirkungen durch den Raum bewegen, bis sie mit einem anderen "Kügelchen" zusammenstoßen. Die Stöße erfolgen "elastisch" - also so, dass keine Energie in eine andere als Stoßenergie umgewandelt wird.

Brownsche Bewegung kleiner, 20 nm großen
Latex-Kügelchen in Wasser.
Diese Bewegung entsteht durch die
unzähligen zufälligen Stöße der viel kleineren
Wassermoleküle an diese größeren Kügelchen.
(Credit: Jkrieger, Deutsches Krebsforschungs-
zentrum, Arbeitsgruppe B040,
via Wikimedia Commons)
Dieses Modell beschriebt natürlich nicht "die Wirklichkeit", schon gar nicht auf mikroskopischer Ebene (deshalb heißt es ja "Modell"), doch es vermag auf erstaunlich gute Weise, Beschreibungen unserer makroskopischen Welt zu liefern. So kann man z. B. sagen, dass der Druck eines Gases in einem abgeschlossenen Gefäß nichts anderes ist als die Summe all der kleinen Impulsüberträge der Gasteilchen an die Behälterwand.
Die Stärke des Modells des idealen Gases und dessen statistischen Formalismus' ist ganz klar die unvorstellbar große Zahl an involvierten Gasteilchen.

Aber hey, wie kann ich mir dieses Meer aus ständig zusammenstoßenden Kugeln nun vorstellen? - Ist es wie ein ruhiges Kugelbad am Kirtag oder doch eher wie im Inneren der Lotto-Maschine?

Wie immer bei Artikeln der Whiteboard-Skizzen-Serie, werde ich nun nicht auf die Details eingehen, sondern nur ein paar Whiteboard-Notizen herzeigen, durch welche man auf die Aussagen kommt, die ich schlussendlich präsentiere.
Dennoch kurz zum Tafelbild: Es gibt die bekannte "Maxwell-Boltzmann-Geschwindigkeitsverteilung" (im Bild die rote Skizze), welche beschreibt, wie viele Teilchen (vertikale Achse) eine gewisse Geschwindigkeit (horizontale Achse) in einem Gas haben. (Die Geschwindigkeitsverteilung ist übrigens stark temperaturabhängig.) Man kann über diese Funktion dann Dinge ausrechnen, wie z. B. die mittlere Geschwindigkeit der Gasteilchen.
Führt man eine weitere Größe ein, nämlich den "Stoßquerschnitt" σ (Sigma), eine mathematische Fläche um ein Teilchen, innerhalb derer ein anderes, vorbeifliegendes Teilchen durch einen Stoß abgelenkt wird, so kann man weiters abschätzen, wie lange die mittlere Wegstrecke Λ (Lambda) ist, die ein Gasteilchen im freien Flug zwischen zwei Stößen zurücklegt, oder die "Stoßzeit" τ (Tau), also die Zeit, die für ein Teilchen im Schnitt zwischen zwei Stößen vergeht.

Whiteboard-Notizen zur Berechnung einiger Eigenschaften von Gasmolekülen.
(Blau: Allgemeine Skizzen der Formel-Herleitungen.
Rot: Konkrete Berechnungen am Beispiel von Stickstoff-Gas.)

Berechnet man - stellvertretend für Luft unter einigermaßen "normalen" Bedingungen (Temperatur: 0°C, Druck: 1 bar) - einige Eigenschaften von Stickstoff, also all der N2-Moleküle (zur Erinnerung: Luft besteht aus 78% aus N2), so erhält man Ergebnisse, die einen vermutlich überraschen, wenn man zum ersten Mal von ihnen erfährt.

Wie schnell sind sie nun also, die einzelnen Teilchen?

Hier die Antwort:
Stickstoffteilchen zischen im Durchschnitt mit 455 Meter pro Sekunde (Das sind 1638 km/h!) wild umher. Doch da sich, wie bereits oben erwähnt, etwa 27 Trillionen Teilchen in einem Kubikzentimeter aufhalten, bleibt ihnen nicht viel Zeit für den freien Flug: Nach einer Strecke von durchschnittlich 83 Nanometern und einer mittleren Zeit von 0,118 Nanosekunden findet bereits der nächste Stoß mit einem anderen Stickstoffteilchen statt. Ein Stickstoffmolekül kracht also etwa 1010 (zehn Milliarden) mal pro Sekunde in ein anderes Molekül.

Solche Zahlen kann man sich vielleicht besser vorstellen, wenn man Vergleiche aufstellt:
Die Luftteilchen bewegen sich also schneller als eine durchschnittliche Pistolenkugel (~340 m/s) bzw. fast doppelt so schnell wie eine Boeing 777 (~248 m/s).
Die mittlere freie Weglänge ist vergleichbar mit der Größe eines HIV-Virus (~90 nm) oder etwa 80% der Größe eines Chromosoms (~100 nm).
Die mittlere Stoßzeit ist eine dermaßen kurze Zeitdauer, dass es besonders schwierig ist, einen Vergleich zu finden, der nicht noch weiter hergeholt ist als die bisherigen. Vielleicht sollte ich also nur sagen, dass Licht in dieser Zeit nur eine Strecke von 3,5 Zentimetern zurücklegt, was nicht besonders viel ist, wenn man bedenkt, dass es in einer Sekunde normalerweise um die 30 Milliarden Zentimeter zurücklegt.

Faszinierende Zahlenwerte, oder?

Wir können nur froh sein, dass wir im Vergleich zu Luftmolekülen so riesig sind und dieses hektische Geflitze und Gestoße der Teilchen dadurch nicht wahrnehmen! Die Welt und unsere Alltagsleben sind auf eine andere Weise ohnehin schon oft stressig genug, stimmt's? ;-)



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